Ein Austritt aus einer weltanschaulichen Gruppierung oder sogenannten Sekte ist oft ein tiefgreifender Einschnitt im Leben eines Menschen. Nicht selten erleben Betroffene eine Phase der Orientierungslosigkeit, begleitet von Gefühlen wie Scham, Wut, Angst oder Trauer. In dieser Zeit wird Selbstfürsorge als existenzielle Grundlage für die eigene Stabilität und Gesundheit besonders wichtig.

In der systemischen Arbeit sehen wir den Menschen nicht isoliert, sondern eingebettet in seine Beziehungen und Kontexte. Entsprechend begreifen wir Selbstfürsorge nicht als egoistischen Rückzug, sondern als aktive Verantwortung für das eigene Wohlbefinden; als Basis, um (wieder) in Beziehung mit anderen und mit sich selbst treten zu können.

Doch was bedeutet Selbstfürsorge konkret nach einem Austritt? Und warum sollte sie sich an den eigenen Bedürfnissen orientieren?

 

Der Austritt – ein Bruch mit alten Strukturen

Viele Gruppierungen regulieren das Leben ihrer Mitglieder intensiv: Kleidung, Sprache, Umgang mit „Außenstehenden“, ja sogar Gedanken und Gefühle können normiert werden. Wer austritt, verliert damit oft nicht nur eine Glaubensgemeinschaft, sondern auch Strukturen, soziale Beziehungen und Teile der eigenen Identität.

Plötzlich müssen eigene Entscheidungen getroffen werden; etwas, das innerhalb der Gruppierung möglicherweise sogar aktiv entmutigt oder sanktioniert wurde. Diese neugewonnene Freiheit fühlt sich deshalb häufig nicht nach Erleichterung an, sondern kann überwältigend, sogar bedrohlich wirken.

Selbstfürsorge hilft, diese Leere behutsam zu füllen; nicht durch neue Abhängigkeiten, sondern durch einen inneren Dialog mit den eigenen Bedürfnissen.

 

Bedürfnisse erkennen: Die Basis für echte Selbstfürsorge

Selbstfürsorge beginnt nicht bei der Frage: „Was tut mir gut?“, sondern bei einer tiefergehenden Frage: „Was brauche ich im Moment wirklich?“

Bedürfnisse sind universell, individuell verschieden in ihrer Priorität und situativ. Nach einem Austritt können besonders folgende Bedürfnisse in den Vordergrund treten:

  • Sicherheit: Schutz vor Überforderung, emotionale Stabilität, Verlässlichkeit im Alltag.
  • Autonomie: Eigene Entscheidungen treffen dürfen, Selbstbestimmung erleben.
  • Zugehörigkeit: Neue, tragfähige soziale Beziehungen aufbauen.
  • Verstehen und Verstandenwerden: Die eigenen Erlebnisse reflektieren und in Worte fassen können, Resonanz erfahren.
  • Wertschätzung: Als Person anerkannt und respektiert werden – ohne Bedingungen.
  • Selbstausdruck: Eigene Interessen und Kreativität (wieder) entdecken dürfen.

Beispiel:
Eine Klientin, die lange Jahre Teil einer streng reglementierten Gemeinschaft war, berichtete, dass sie nach dem Austritt ständig von Aktivitäten und Angeboten überflutet war: Selbsthilfegruppen, Sportkurse, Beratungen. Obwohl sie wusste, dass dies „gut“ für sie sein sollte, fühlte sie sich zunehmend erschöpft. Erst als sie erkannte, dass ihr Grundbedürfnis nach Ruhe und Sicherheit derzeit wichtiger war als das Bedürfnis nach Aktivität und Anschluss, konnte sie Entscheidungen treffen, die ihr wirklich halfen: Sie erlaubte sich, einfach einige Monate lang Spaziergänge alleine zu machen, bevor sie neue Kontakte knüpfte.

 

Selbstfürsorge praktisch: An Bedürfnissen orientiert handeln

Hier einige Beispiele, wie Selbstfürsorge nach einem Austritt konkret aussehen kann – immer ausgehend von einem bestimmten Bedürfnis:

Bedürfnis Selbstfürsorge-Maßnahme
Sicherheit Einen Tagesablauf mit kleinen Ritualen schaffen (z. B. feste Schlafenszeiten, regelmäßige Mahlzeiten)
Autonomie Sich bewusst kleine Entscheidungen selbst erlauben (z. B. was ziehe ich heute an, was esse ich?)
Zugehörigkeit Unverbindliche, niederschwellige soziale Kontakte suchen (z. B. offene Treffs, Online-Communities)
Verstehen Tagebuch schreiben oder ein Gespräch mit einer unabhängigen Beratungsstelle führen
Wertschätzung Sich selbst kleine Anerkennungen schenken, z. B. „Heute habe ich gut für mich gesorgt“
Selbstausdruck Kreatives Schreiben, Malen, Musizieren – ohne Anspruch auf „Leistung“

 

Wichtig: Es gibt keine „richtige“ oder „falsche“ Selbstfürsorge. Entscheidend ist, dass die Aktivität das aktuelle Bedürfnis wirklich anspricht – und nicht etwa ein altes Schuld- oder Pflichtgefühl bedient.

 

Hindernisse erkennen: Selbstfürsorge ist manchmal auch unbequem

Nach einem Austritt kann Selbstfürsorge zunächst paradox wirken: Etwas für sich zu tun, kann Schuldgefühle auslösen („Darf ich das überhaupt?“) oder Unsicherheit hervorrufen („Was, wenn ich es falsch mache?“).

Auch hier ist eine systemische Perspektive hilfreich: Diese inneren Hürden sind keine „Schwächen“, sondern nachvollziehbare Folgen der bisherigen Prägung. Sie dürfen ernst genommen werden – und zugleich ist es erlaubt, ihnen nicht blind zu folgen.

Beispiel:
Ein junger Mann wollte sich nach Jahren in einer religiösen Gruppierung endlich wieder seinem alten Hobby, dem Zeichnen, widmen. Doch immer wieder sabotierte er sich selbst: Er fühlte sich „faul“ und „selbstsüchtig“. In der Begleitung erkannte er, dass diese negativen Stimmen alte Gruppenmuster widerspiegelten, nicht seine aktuelle Realität. Mit dieser Erkenntnis konnte er sich Schritt für Schritt freier seinem Bedürfnis nach Selbstausdruck widmen.

 

Fazit: Selbstfürsorge ist Wiederaneignung von Leben

Nach einem Austritt ist Selbstfürsorge weit mehr als Wellness oder Entspannung; sie ist ein fundamentaler Prozess der Selbstbegegnung und Selbstermächtigung.
Indem Menschen lernen, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und ihnen mit Respekt zu begegnen, weben sie sich ein neues inneres Netz der Sicherheit und Orientierung.
Selbstfürsorge wird damit zu einer Brücke: Von einer Welt äußerer Kontrolle zu einer Welt innerer Freiheit.

Und sie darf, wie alle guten Brücken, langsam und stabil gebaut werden.