Spätestens nach dem Scheitern der Pläne rund um die Entführung Karl Lauterbachs und dem Plan, das politische System der Bundesrepublik Deutschland zu stützen, stehen Reichsbürger im Fokus der Öffentlichkeit. Auch wenn ihre politischen Ansichten teilweise vielleicht skurril anmuten, ist das Gefährdungspotenzial durch die Szene nicht zu unterschätzen. Auch deshalb wird die Reichsbürgerszene seit 2016 gesondert neben Feldern wie Rechts- und Linksextremismus durch den Verfassungsschutz beobachtet. (vgl. Rathje 2019, S. 159)
Die Reichsbürger – Eine heterogene Szene
Unterstrichen werden muss, dass es den typischen Reichsbürger nicht gibt. Die Reichsbürgerszene wird durch ein hohes Maß an Heterogenität gekennzeichnet. Die Szene ist tendenziell männlich geprägt, von den ca. 25.000 Szeneangehörigen waren 2023 43% weiblich (vgl. Verfassungsschutzbericht 2023, S. 133). Die Mitglieder waren 2020 durchschnittlich zwischen 40 und 60 Jahre alt (vgl. Pöhlmann 2021, S. 184). Auch wenn sich die Szene in einem Verjüngungsprozess befindet, ist das höhere Alter bemerkenswert, da Radikalisierung in Deutschland zumeist als ein Jugendphänomen bezeichnet wird (vgl. Fiebig, Köhler 2019, S. 28).
Die Szene selbst hat keinen hohen Organisationsgrad. Nach Keil kann man Reichsbürger grob in vier Gruppen aufteilen, wobei sich ein Reichsbürger auch durchaus mehreren Gruppen zuordnen kann. So spricht Keil zunächst von den klassisch nationalistischen Reichsbürgern. Diese orientieren sich, selbst im Vergleich zu anderen Reichsbürgern, im ideologischen Spektrum verstärkt an rechten Positionen. In der zweiten Gruppe, die Selbstverwalter, dominiert nach Keil ein Interesse an Bereicherung. Sie sehen die BRD als eine Firma an, aus der sie austreten können, weshalb sie dann eine Steuern etc. mehr zahlen müssten (vgl. Keil 2017, S. 54f.). Allgemein gibt es Hinweise darauf, dass finanzielle Probleme bei der Hinwendung zum Reichsbürgertum eine Bedeutung haben (vgl. Fiebig, Köhler 2019, S. 21). Als dritte Gruppe benennt Keil selbsternannte Stifter oder Herrscher über vermeintliche Herrschaftsgebiete. Hier bestehe eine besonders enge Verknüpfung zu esoterischem Gedankengut. Abschließend beschreibt Keil auch die Gruppe derjenigen, die wirtschaftlich, beispielsweise durch den Verkauf von „Reichsbürger-Merch“ von der Szene profitieren und bei denen unklar ist, inwieweit sie die Positionen der Szene teilen (vgl. Keil 2017, S. 54f.). Der Verfassungsschutz spricht von dem Phänomenbereich „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“, verweist aber auch darauf, dass diese beiden Gruppen teils schwer voneinander abzugrenzen sind (vgl. Verfassungsschutzbericht 2023, S. 132).
Ideologische Grundpfeiler
Was die Szene vereint, ist die Ansicht, dass es sich bei der Bundesrepublik Deutschland nicht um einen legitimen Staat handelt. Diese Annahme steht im Kern ihrer ideologischen Vorstellungen. Weitergehende ideologische Elemente übernehmen sie aus dem rechten Spektrum. Verbunden wird die rechtsextreme Szene in Deutschland und die Reichsbürgerszene beispielsweise durch die weite Verbreitung antisemitischer Verschwörungserzählungen und eine revisionistische Haltung. Da ein weiter Teil der Reichsbürger der Auffassung ist, dass entweder die Verfassung von 1871 oder von 1937 noch Gültigkeit habe, unterstellen sie, dass sich das deutsche Staatsgebiet auch weit über seine heutigen Grenzen erstrecken würde. So würden unter anderem Elsass-Lothringen und große Teile Polens zum deutschen Herrschaftsbereich gehören. Derartige Vorstellungen sind auch innerhalb der rechtsextremen Szene verbreitet. Trotz dieser ideologisch rechten Orientierung sind die Reichsbürger von rechtsextremen Akteuren abzugrenzen, personelle Überschneidungen zwischen beiden Gruppen sind eher selten. Weitere für das eigene Weltbild bedeutende Vorstellungselemente werden aus dem esoterischen Bereich und aus Verschwörungserzählungen entnommen. Der Übergang ist an dieser Stelle zumeist fließend. (vgl. Pöhlmann 2021, S. 183-186)
Beachtet werden muss, dass sich einzelne Aspekte innerhalb des Weltbilds der Reichsbürger durchaus auch widersprechen können. So werden beispielsweise Entscheidungen des Bundesverfassungsgereichts uminterpretiert, um die Behauptung zu stärken, die Bundesrepublik sei keine legitime Herrschaftsorganisation, während gleichzeitig die Institution „Verfassungsgericht“ gar nicht als legitim angesehen wird, da sie Teil des Herrschaftsapparats der Bundesrepublik ist. (vgl. Caspar, Neubauer 2017, S. 134)
Gefahrenpotenzial
Bei der Einschätzung, inwieweit von Reichsbürgern Gefahren für einzelne Personen oder die Gesellschaft ausgehen, ist wichtig zu beachten, dass in der Szene eine große Affinität zu Waffen besteht. Reichsbürger selbst dürfen jedoch keine Waffe besitzen, da die Gefahr besteht, dass diese zum Widerstand gegen die Staatsgewalt eingesetzt werden (vgl. Verfassungsschutzbericht 2023, S. 140f.). Gewalt wird durch die Reichsbürger auch primär gegen Mitarbeitende des Staats ausgeführt. Die Straftaten reichen von dem Missbrauch von Amtsbezeichnungen und Dienstbezeichnungen hin bis zu versuchtem Mord. Häufiger auftretende Vergehen sind zudem Urkundenfälschung, Fahren ohne die nötige Fahrerlaubnis und Verstöße gegen das Personalausweisgesetz (vgl. Neuwald 2023, S. 68ff.). Häufiger treten daneben aber auch (versuchte) Erpressungen und Nötigungen auf, in der Regel als Reaktion auf amtliche Schreiben (vgl. Fiebig, Köhler 2019, S. 19).
Die Gewalt gegen für den Staat arbeitende Personen und die Nichtbefolgung der Gesetze wird dadurch gerechtfertigt, dass der Staat nicht zu herrschen berechtigt sei, dass er seine Macht illegalerweise ausüben würde. Laut Verfassungsschutz befürworten 10 % der Szenemitglieder Gewalt oder wenden diese auch an (vgl. Verfassungsschutzbericht 2023, S. 133). Beachtet werden muss aber, dass sich gewalttätige und nicht-gewalttätige Szenemitglieder hinsichtlich ihrer sozialen und biographischen Eigenschaften wenig unterscheiden. Daraus folgt, dass nur unzureichend Prognosen darüber getroffen werden können, welche Szeneangehörige Gewalt anwenden könnten (vgl. Fiebig, Köhler 2019, S. 7).
Erkennen von Reichsbürgern und Gedankengut aus der Reichsbürgerszene
Direkt physisch erkennbar ist eine Affinität mit, beziehungsweise eine Zugehörigkeit zu der Reichsbürgerszene durch Fantasiedokumente. Anstatt eines Personalausweises, der einen der Vorstellung der Reichsbürger nach als Personal der vermeintlichen BRD GmbH ausweisen würde, wird ein „Personenausweis“ erstellt. Ein weiteres Beispiel für ein verbreitetes Fantasiedokument sind selbst erstellte Führerscheine. Teils werden auch Veränderungen an dem Kennzeichen vorgenommen, so bringt man beispielsweise die Farben rot und schwarz an, um einen Bezug auf das Deutsche Kaiserreich herzustellen (vgl. Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt 2021, S. 9, 27). Reichsbürger selbst machen auch im Rahmen des Kontaktes mit staatlichen Institutionen auf sich aufmerksam. Charakteristisch für die Szene ist das Versenden von langen Schreiben, in denen man sich auf vermeintlich gültige Rechtsvorschriften oder Ähnliches bezieht, mit denen man zu begründen versucht, weshalb man staatlichen Anforderungen, wie Steuerzahlungen, nicht nachkommen müsse (vgl. Keil 2017, S. 59). Diese Hinweise auf die persönliche Gesinnung sind recht offensichtlich. Subtiler sind die Verweise innerhalb eines Gesprächs auf Reichsbürgerthemen. Reichsbürger sprechen zum Beispiel davon, die Menschenrechte umsetzen zu wollen und beziehen sich häufiger auf die Vereinten Nationen. Ein genaues Hinhören kann sich empfehlen, wenn das Gegenüber im Rahmen des Gesprächs häufig und meist ausführlich bestimmte Rechtsvorschriften oder Verfassungsgerichtsurteile verweist und die eigene Souveränität überbetont (vgl. Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt 2021, S. 21-16).
Was tun:
- Informieren Sie den jeweils für Ihr Bundesland zuständigen Verfassungsschutz, falls Sie Kenntnis über den Waffenbesitz einer Person in ihrem Umfeld haben, die Reichsbürgerideen teilt
- Inhaltliche Diskussionen mit Reichsbürgern sind nicht zielführend. Falls inhaltliche Fragen bei Ihnen aufkommen, ziehen Sie beispielsweise die im Literaturverzeichnis genannte Broschüre des Landes Sachsen heran. Dort werden gängige Argumente vorgestellt und entkräftet
- Sollten Aussagen, wie beispielsweise die Leugnung des Holocaust, die rechtlichen Grenzen der Meinungsfreiheit überschreiten, können Sie diese zur Anzeige bringen
- Sollten Sie Fragen, Probleme und Sorgen im Umgang mit Reichsbürgern in Ihrem Umfeld haben, wenden Sie sich an eine professionelle Beratungsstelle, beispielsweise ZEBRA-BW, veritas oder sektenInfo NRW.
Literaturverzeichnis
Bundesministerium des Inneren und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2023, 2024, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2024-06-18-verfassungsschutzbericht-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=172024, abgerufen am 24.09.2024.
Caspar, Christa/Neubauer, Reinhard: Durchs wilde Absurdistan. Was zu tun ist, wenn „Reichsbürger“ und öffentliche Verwaltung aufeinandertreffen. In: Wilking, Dirk (Hrsg.): „Reichsbürger“. Ein Handbuch, Demos-Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung, 3. Aufl., Potsdam 2021, S. 119-207, abrufbar unter: https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/25143.
Fiebig, Verena/Köhler, Daniel: Taten, Täter, Opfer. Eine Studie der Reichsbürgerbewegung auf Grundlage einer Presseauswertung, 2019, https://www.konex-bw.de/wp-content/uploads/2019/10/RZ_konex_ReichsbuergerBroschuere_web.pdf, abgerufen am 24.09.2024.
Keil, Jan-Gerrit: Zwischen Wahn und Rollenspiel – das Phänomen der „Reichsbürger“ aus psychologischer Sicht. In: Wilking, Dirk (Hrsg.): „Reichsbürger“. Ein Handbuch, Demos-Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung, 3. Aufl., Potsdam 2021, S. 54-118, abrufbar unter: https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/25143.
Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt: „Reichsbürger“, „Reichsregierungen“ und „Selbstverwalter“. Informationen und Handlungsempfehlungen zur „Reichsbürgerszene“, 2021, https://mi.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/MI/MI/3._Themen/Verfassungsschutz/Reichsb_Selbstverw_Neuauflage.pdf, abgerufen am 23.09.2024.
Neuwald, Nils: Reichsbürger und Selbstverwalter. Rechtliche Maßnahmen und kriminalstrategische Handlungsoptionen im Rahmen alltäglicher Kontrollsituationen. In: Kriminalistik, Bd. 77 (2), 2023, S. 67-71.
Pöhlmann, Matthias: Rechte Esoterik. Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen, Herder, Freiburg/Basel/Wien 2021.
Rathje, Jan: Eine neue rechtsterroristische Bedrohung? Souveränismus von „Reichsbürgern“ und anderen in Deutschland. In: Quent, Matthias/ Salzborn, Samuel/Salheiser, Axel (Hrsg.): Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt: Rechtsextremismus. Amadeo Antonio Stiftung, Berlin 2019, S. 158-167, abrufbar unter: https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/PDFS_WsD6/WEB_Idz_WsD_06.pdf.
Literaturempfehlungen: Reichsbürgerfamilien und der Umgang mit diesen
Becker, Kim Lisa/Meilicke, Tobias (2022): Das Kindeswohl im Kontext von Verschwörungserzählungen. In: KiTa aktuell Recht (3), 2022, S. 25-29.
Gollan, Anja: Aufwachsen mit Verschwörungserzählungen und Staatsablehnung. Kinderschutz im Kontext des „Reichsbürger-“, „Selbstverwalter-“ und „Delegitimierermilieus“. In: Zeitschrift für Religion und Weltanschauung, Bd. 87 (4), 2021, S. 255-275.
Gollan, Anja/ Riede, Sabine/Schlang, Stefan: Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Familienrechtliche Konflikte im Kontext religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften, Drei-W-Verlag, Köln 2018.
Pohl, Sarah/Wiedemann, Mirijam: Zwischen den Welten: Filterblasenkinder verstehen und unterstützen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023.
Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Katharina Schulze, Cemal Bozoğlu, Anna Schwamberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 28.10.2021. Betrieb von illegalen Schulen und Lerngruppen aus dem Umfeld der Querdenken-Bewegung oder des Reichsbürgermilieus (Drucksache 18/19708), https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP18/Drucksachen/Schriftliche%20Anfragen/18_0019708.pdf, abgerufen am: 24.09.2024.
von A. Strohmeier