In der Beratung begegnen wir Menschen, die sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellen; besonders, wenn es um Fragen von Sinn, Zugehörigkeit oder moralischer Orientierung geht. Sie möchten „das Richtige“ tun, auf der „richtigen Seite“ stehen, keine Fehler machen – weder in der Wahl ihrer Überzeugungen noch in ihrer Kommunikation darüber. Doch was passiert, wenn das Streben nach Richtigkeit zur Belastung wird?

Wenn „richtig machen“ zur Last wird

Perfektionismus ist nicht einfach Fleiß. Er beschreibt ein inneres Spannungsfeld: Der Anspruch, alles „korrekt“ machen zu wollen, ist oft mit Angst verbunden, Angst vor Fehlern, vor Kritik, vor Liebesentzug. In weltanschaulichen Kontexten kann dieser Druck besonders groß sein:

  • Eine Person ist aus einer strengen religiösen Gemeinschaft ausgetreten und versucht nun, jede neue spirituelle Praxis auf ihre absolute „Richtigkeit“ zu prüfen; etwa aus Sorge, wieder in etwas „Falsches“ hineinzurutschen.
  • Ein Vater möchte sein Kind vor extremen Gruppen schützen und informiert sich akribisch, doch statt Beruhigung spürt er nur noch mehr Verantwortung, alles im Blick behalten zu müssen.
  • Eine junge Frau engagiert sich politisch, hat aber ständig Angst, in Diskussionen nicht „die perfekte Haltung“ zu vertreten oder einen Begriff falsch zu benutzen.

All diese Beispiele zeigen: Der Wunsch, etwas „gut“ zu machen, ist nachvollziehbar. Aber wenn er von rigiden inneren Maßstäben gelenkt wird, kann er blockieren statt befreien.

Woher kommt dieser Anspruch?

Hinter perfektionistischen Tendenzen stecken oft tief verankerte innere Botschaften wie:

  • „Ich muss alles richtig machen, sonst…“ (…werde ich ausgeschlossen, nicht ernst genommen, enttäusche andere.)
  • „Nur wenn ich keine Fehler mache, bin ich sicher.“
    Diese Überzeugungen entstehen oft früh in Familien, Schulen oder weltanschaulichen Gruppen, in denen Fehler nicht als Lernchancen, sondern als Makel gelten.

Auch gesellschaftlich wird Perfektion begünstigt: In Zeiten von Unsicherheit geben klare Positionen und makellose Auftritte Halt; egal ob im Glauben, in der Lebensweise oder auf Social Media. Doch diese Schein-Sicherheit hat ihren Preis.

Perfektionismus als Schutzstrategie

Perfektionismus kann auch ein Schutzschild gegen Scham, gegen Zweifel, gegen Verletzlichkeit sein. Wer besonders viel weiß, korrekt spricht oder moralisch unantastbar handelt, zeigt keine Angriffsfläche. Doch der Preis dafür ist hoch: innere Anspannung, Entscheidungsangst, das Gefühl, nie genug zu sein.

In weltanschaulichen Zusammenhängen kann das bedeuten:

  • Keine Position mehr beziehen zu wollen, um bloß niemandem auf die Füße zu treten.
  • Oder im Gegenteil: sich so fest an eine Ideologie zu binden, dass kein Raum mehr für Grautöne bleibt – aus Angst, sich zu irren.

Was hilft?

Ein hilfreicher Umgang mit Perfektionismus bedeutet nicht, Beliebigkeit oder Gleichgültigkeit zu fördern. Es geht darum, menschlich zu bleiben mit all den Fragen, Unsicherheiten und Lernprozessen, die zum Leben dazugehören. Dabei kann es helfen:

  • Fehler als Entwicklungsschritte zu verstehen, nicht als Scheitern.
  • Ambivalenzen auszuhalten, ohne sofort in Bewertungen zu verfallen.
  • Sich selbst den gleichen Respekt zuzugestehen, den man anderen entgegenbringen möchte.

Reflexionsfragen: Einladung zur Auseinandersetzung

Diese Fragen können helfen, den eigenen Perfektionsanspruch zu erkennen und einzuordnen, besonders im Umgang mit weltanschaulichen Themen:

Zur Selbstwahrnehmung:

  • In welchen Situationen habe ich das Gefühl, keine Fehler machen zu dürfen?
  • Wie gehe ich mit mir um, wenn ich mich irre (z. B. in einer weltanschaulichen Entscheidung)?
  • Gibt es Entscheidungen, die ich ewig aufschiebe, weil ich sie „richtig“ treffen will?

Zur Herkunft des Perfektionsanspruchs:

  • Woher kenne ich die Botschaft: „Du musst es richtig machen“? (Familie, Schule, Religion, frühere Gruppen…)
  • Wessen Anerkennung versuche ich zu gewinnen, wenn ich besonders korrekt bin?
  • Gab es in meiner Vergangenheit Konsequenzen für vermeintliche Fehler?

Im Umgang mit anderen:

  • Wie reagiere ich, wenn jemand eine andere Sichtweise vertritt als ich?
  • Erlaube ich anderen, sich zu irren oder nur mir selbst nicht?
  • Versuche ich manchmal, in Gesprächen „unangreifbar“ zu sein? Was steckt dahinter?

Für einen hilfreichen Umgang:

  • Was würde sich verändern, wenn ich nicht alles perfekt machen müsste?
  • Was wäre eine mutige, unperfekte Handlung, die ich mir erlauben könnte?
  • Welcher Gedanke würde mir helfen, mehr Menschlichkeit als Fehlerlosigkeit anzustreben?

Fazit: Gut genug ist oft besser als perfekt

Perfektionismus kann ein starker Antreiber sein, aber auch ein strenger Richter. Besonders in weltanschaulichen Kontexten lohnt es sich, den eigenen Anspruch zu hinterfragen. Wer sich erlaubt, nicht alles zu wissen, sich zu irren und trotzdem ernst genommen zu werden, schafft Raum für Entwicklung und für echte Begegnung.