Die älteren Semester unter euch erinnern sich vielleicht noch vage an die Okkultismuswelle der 80er-Jahre. Damals berichtete BRAVO über Pendeln und Gläserrücken und löste damit einen regelrechten Hype unter den jungen Menschen – und gleichzeitig eine große Verunsicherung unter den Erwachsenen aus. Man befürchtete, die jungen Menschen würden sich mit dem Teufel höchstpersönlich einlassen. Schon damals stand die Frage im Raum, ob es sich bei okkulten Praktiken um harmlose Spielereien handelt oder ob diese eine Gefahr für die seelische und geistige Gesundheit darstellen können.
In den letzten Jahren flammten immer mal wieder okkulte Trends im DIY-Style auf. Vielleicht habt ihr selbst schon Erfahrungen mit #charlycharly oder #bloodymary gesammelt? 2015 ging die Charly-Charly-Challenge viral und sorgte für reichlich Schlagzeilen im Sommerloch – initiiert von den Machern des Horrorfilms „The Gallow“ teilten Millionen von Jugendlichen unter dem Hasthag #Charlycharly ihre Erfahrungen mit einer sehr simplen und einfach wiederholbaren Form der „Geisterbeschwörung“. Man nehme zwei Bleistifte und lege sie überkreuzt aufeinander, und schon hat man ein Orakel, welches Ja/Nein-Fragen vermeintlich beantwortet. Denn aufgrund des fragilen Aufbaus bewegt sich der obere Stift auch schon bei einem minimalen Luftstrom, scheinbar wie von Geisterhand. Eine auf den ersten Blick verblüffende Challenge, mit hohem Nachahmungsfaktor ohne großen Aufwand. Nach wir vor experimentieren Jugendliche mit dieser Orakeltechnik. Alter Wein in neuen Schläuchen? In gewisser Weise schon, denn dieses Spiel ist eine moderne Ausführung des spanischen Papier-und-Bleistift-Spiels Juego de la Lapicera (Spiel des Stiftes). Und gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie die Lust am Gruseln und die jugendliche Neugierde an Grenzerfahrungen und Okkultem von der Werbeindustrie ausgenutzt wird, um, wie in diesem Fall, einen Film zu promoten.
Diese Kommerzialisierung okkulter Praktiken erleben wir jedoch nicht nur bei Trends wie der Charly-Charly-Challenge, sondern auch auf dem Esoterikmarkt werden seit vielen Jahrzehnten okkulte Techniken gegen bares Geld gelehrt oder angewendet. Wer sich durch AstroTV zappt, kann sich wahlweise mit Tarotkarten, Kaffeesatz, Runen o.ä. die Zukunft orakeln lassen. Und zumindest die Vorhersage, dass man besser auf finanzielle Aspekte im Leben achten sollte, trifft auf die Anrufer zu, denn die sind erstmal einiges an Geld los und hinterher selten klüger als davor. Dass Jugendtrends aufgegriffen und vermarktet werden, ist nichts Neues, auch im Bereich der Modeindustrie lässt sich beobachten, wie kaum noch ein authentischer Schutzraum für die Entwicklung neuer Jugendtrends besteht und findige Textilhersteller sich gleich reihenweise auf neu entstehende Trends stürzen und diese als Stangenware produzieren.
Neuerdings verbreitet sich unter dem Hashtag #Witchtok auf der Plattform TIKTOK ein neuer Trend. Bereits mehr als 1,7 Milliarden Views hat der Hashtag seit 2019 und ein Ende des Hypes ist noch nicht abzusehen.
Was verbirgt sich hinter diesem Hashtag?
Im Grunde erlebt die traditionelle „Hexenkunst“ ein Revival, allerdings in neuem Gewand, medial inszeniert und mit neuen Profiteuren. Was tun diese “Witchtoker“? Im Grunde findet sich eine bunte Mischung aus okkulten Praktiken, wie Tarotkarten, Wünschelruten, Pendeln, kombiniert mit allerlei Schutzzaubern, Kräuterkunde, psychologischen Tricks und Tipps, usw. Dieser Trend passt bestens in unsere Zeit. Warum?
- Wellnessorientierung: Es geht viel um das eigene Wohlbefinden und das der Mitmenschen. Diese Wellnesssorientierung im spirituellen Sektor ist seht typisch für die heutige Zeit.
- Kommerzialisierung: Es gibt manche Stars in der Szene, die sich gekonnt als Hexe inszenieren und für bares Geld Seminare, Tutorials, Onlineschulungen oder Schutzzauber verkaufen.
- DIY-Trend: Sehr viele Menschen neigen heute dazu, sich im Patchworkstyle ihre eigene Spiritualität zu kreieren. Witchtok steht dafür beispielhaft, denn auch hier kann jeder partizipieren und selbst mitmachen und sich aus verschiedenen Elementen kombinieren was ihm oder ihr gefällt.
- Individualisierung: Glaube wird zunehmend individueller, Witchtok steht symbolisch für diese Individualisierung im spirituellen Bereich.
- Deinstitutionalisierung: Es braucht keinen Zeremonienmeister oder Priester, sondern jede und jeder kann für sich selbst oder gemeinsam mit anderen zur Hexe werden, und sich einen Altar in die Wohnung stellen, ein bisschen räuchern, oder magische Rituale praktizieren
- Ganzheitlichkeit: Seit vielen Jahren im Trend, geht es auch bei Witchtok um ein ganzheitliches erleben, mit allen Sinnen.
- Erlebnisorientierung: In Glaubensdingen nehmen Angebote zu, mit Erlebnisfaktor. Dieser Erlebnisfaktor ist bei Witchtok deutlich sichtbar.
- Mediale Inszenierung: Typisch für spirituelle Angebote unsere Zeit ist, dass meist soziale Plattformen genutzt werden und eine hohe mediale Affinität besteht. Dadurch wird Reichweite erzeugt
- Verbundenheit: Menschen sind Herdenwesen und haben nach wie vor das Bedürfnis sich mit Gruppenverbunden zu fühlen oder Teil einer Bewegung zu sein. Auch dafür steht Witchtok.
- Selbsterhöhung: „Ich bin etwas Besonderes, ich bin eine Hexe.“ Manche Menschen erleben eine Aufwertung des Selbstbewusstseins, indem sie sich mit Magie und Hexentum beschäftigen.
- Naturverbundenheit: Öko boomt, gerade die junge Generation setzt sich verstärkt für Umwelt und Natur ein. In mancherlei Hinsicht wird diese Naturverbundenheit und eine Affinität zu Naturheilkunde bei Witchtok aufgegriffen und bedient.
- Selbstinszenierung: Manch ein Youtuber und Tiktoker liebt das Clickbaiting und nutzt den neuen Trend zur reinen Selbstinszenierung. Wir sehen unter dem Hashtag eine bunte Mischung an Menschen, die teils intrinsisch und teils extrinsisch motiviert ihre Erfahrungen teilen.
Das alles klingt nun erstmal ziemlich harmlos – ja im Prinzip sogar nach einem positiven Trend hin zu selbstbestimmtem Glauben und zurück zur Natur. Aber jede Münze hat auch eine Kehrseite. Wie bei vielem schlummert auch in Witchtok zumindest ein gewisses kritisches Potential. Zwar trifft Witchtok in vielerlei Hinsicht den Nerv der Zeit und gibt einer vielleicht orientierungslosen Generation, welche in den letzten Jahren von Krise zu Krise schlitterte, so etwas wie Sinn und Hoffnung. Solange es gut geht, und kleine Rituale und Zaubereien Hoffnung spenden, ist dagegen ja auch erstmal nichts einzuwenden. Doch manchmal kann magisches Denken auch Ängste auslösen. Dann nämlich, wenn es nicht positiv läuft im Leben, wenn man das Gefühl hat, vom Unglück verfolgt zu sein. Und manch einer klagt darüber „die Geister die er rief“ nicht mehr los zu werden. Was wirkt kann eben auch Nebenwirkung entfalten. So wie es einen Placeboeffekt gibt, existiert auch ein Noceboeffekt. Dessen sollte man sich bewusst sein. Magisches Denken ist in vielen Menschen tief verwurzelt. Eine trübe, langweilige Welt, die fremdbestimmt und krisenhaft erscheint, kann durch solche magischen Denkstrukturen erträglicher und bunter werden. Indem man kleine magische Rituale durchführt, erobern sich manche junge Menschen ein Gefühl der Kontrolle über die Probleme auf der Welt zurück.
Doch gleichzeitig kann diese jugendliche Neugierde und die Lust am Experimentieren auch ausgenutzt werden. Dies sehen wir in den kommerzialisierten Angeboten, die darauf abzielen, dass Menschen Geld ausgeben, Selbstbestimmung abgeben und sich beispielsweise für 2000 Euro zur Hexe ausbilden lassen. Hier entsteht nicht nur finanzieller Schaden, sondern bisweilen ist auch der emotionale Schaden hoch. Dann etwa, wenn Abhängigkeiten entstehen, wenn eine unsachgemäße Beratung (v.a. bei psychischen Leiden) stattfindet, wenn Therapien verhindert werden, wenn Autonomie abnimmt und wenn Selbstbestimmung abgegeben wird. Und bisweilen kommen auch menschenfeindliche Ansichten in die esoterische Melange.
Dennoch sehen wir in Witchtok zunächst eine sehr vielfältige und bunte Szene, welche Vor- und Nachteile bietet. Wir wollen diesen neuen Trend weder verharmlosen noch verteufeln. Stattdessen betrachten wir dies umso mehr als Anlass zu sensibilisieren, damit jeder und jede für sich lernt, gut auszuwählen, welches Angebot in welcher Lebenssituation passend ist. Es ist notwendig auf Grenz- und Graubereiche zu achten, Autonomie und Selbstbestimmung nicht aufzugeben und keinen neuen „Gurus“ zu folgen. Scheut euch nicht, wenn Unsicherheiten und Ängste entstehen, zum Hörer zu greifen und nachzufragen. Wir sind für euch da, hören zu und versuchen eure Fragen zu beantworten. Mehr dazu erfahrt ihr übrigens auch in unserem Podcast.